Zur Diskussion: Überlieferungsbildung bei der Polizei

Überlieferungsbildung

 

Am Anfang dieses VdA-Blogs stand auch die Überlegung, dass den Archivarinnen und Archivaren in Deutschland die Gelegenheit fehlt, sich im virtuellen Raum angemessen fachlich austauschen zu können. Der Fachdiskurs findet weitgehend über Publikationen und Vorträge statt, zwei Kommunikationsformen, die sich zwar durch Sichtbarkeit und Stabilität auszeichnen, weniger aber durch Austausch und Diskussionsmöglichkeiten. Diese Lücke will das VdA-Blog schließen helfen, in dem Themen präsentiert und diskutiert werden können.

Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle versuchen, ein spezielles Thema in den Blickpunkt zu rücken, dass mich in meiner alltäglichen Arbeit nun schon etwas länger begleitet, dessen Behandlung aber bisher immer eher introvertiert-intellektuell als diskursiv-kommunikativ stattfand: die Aktualisierung des Archivierungsmodells Polizei des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen. Das Modell stammt bereits aus dem Jahre 2006 und bedarf einerseits wegen veränderter polizeilicher Strukturen, andererseits wegen neu gewonnener Erkenntnisse über Arten und Inhalte des polizeilichen Schriftguts eine gewisse Modernisierung.

Einen öffentlichen Austausch über die polizeiliche Überlieferungsbildung hat – soweit ich sehe – in der Archivwelt praktisch noch nicht stattgefunden. Neben dem Archivierungsmodell des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen ist mir lediglich das Bewertungsmodell des Landesarchivs Baden-Württemberg bekannt. In Niedersachsen existiert wohl ein Archivierungsmodell Kriminalpolizei, das aber scheinbar nicht online greifbar ist. Auch für die Bundespolizei existiert ein Bewertungsmodell, entwickelt durch eine ARK(bzw. KLA)-Arbeitsgruppe. (Zudem kann man aus Hinweisblättern verschiedener Bundesländer für die Polizeibehörden eine Bewertungstendenz erkennen.) Entsprechende Publikationen gibt es praktisch keine. Dennoch muss es ja Archivarinnen und Archivare geben, die sich mit der Überlieferungsbildung bei der Polizei befassen, manche Akten als archivwürdig auswählen und andere zur Kassation freigeben. Eine polizeiliche Überlieferungsbildung findet statt – aber nach welchen Kriterien? Auch wenn sich diese Frage insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen in den Landes-/Staatsarchiven richtet, so möchte ich doch auch ebendiese in den Kommunalarchiven ansprechen. Polizei ist eng mit den Gegebenheiten der lokalen Lebenswelt verknüpft – was wünschen Sie sich für eine polizeiliche Überlieferungsbildung?

 

Im Folgenden findet sich ein Überblick über die Grundzüge des überarbeiteten Archivierungsmodells Polizei des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen (nach gegenwärtigem Sachstand). Ich beschränke mich dabei auf die Kreispolizeibehörden (die in Nordrhein-Westfalen meistens deckungsgleich mit den Städten bzw. Kreisen sind) und vernachlässige obere und oberste Polizeibehörden:

(Gesamtüberblick in Listenform)

Die Organisation der Polizei wird durch archetypisches verwaltungsorganisatorisches Schriftgut dokumentiert: Organisationspläne, Geschäftsverteilungspläne, Geschäftsordnungen. Normative Vorgaben werden durch die komplette Übernahme der Dienstanweisungen überliefert. Interne Diskussionen und Themen lassen sich über die Protokolle zu Dienstbesprechungen auf oberer Ebene nachvollziehen. Ergänzend werden Druckschriften, v.a. Jahresberichte, Statistiken u.ä., übernommen.

Das polizeiliche Personal wird über eine Auswahl an Personalakten überliefert, die den Vorgaben des Archivierungsmodells Personalverwaltung folgt. Die Auswahlkriterien für die Archivwürdigkeit sind ein Geburtsjahrgang bis 1920, eine Geburtstag am 16.01. oder 16.06., eine Laufbahn im höheren Dienst oder das Erreichen der Endstufe im gehobenen Dienst oder ein schweres Disziplinarvergehen.

Die grundsätzliche polizeiliche Arbeit wird durch das Tägliche Lagebild dokumentiert. Dieses Lagebild fasst alle Ereignisse zusammen, die die Kriterien eines wichtigen Ereignisses (WE-Meldung) erfüllen. Da die Hürde, als wichtiges Ereignis zu gelten, nicht sonderlich hoch hängt, findet sich hier ein guter Überblick über den polizeilichen Alltag, insbesondere über öffentliche Veranstaltungen, (schwere) Verkehrsunfälle, (schwere) Gewaltdelikte, außergewöhnliche Vorgänge u.ä. Tägliche Lagebilder sind flächendeckend archivwürdig (ebenso wie das Tägliche Landeslagebild beim Landesamt für zentrale polizeiliche Dienste).

Um öffentliche Veranstaltungen (v.a. Demonstrationen) angemessen zu dokumentieren, werden entsprechende Anmeldungen ebenfalls komplett übernommen. Aus dieser Gesamtheit lässt sich ein Überblick über die politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten im öffentlichen Raum gewinnen. Eigentliche Einsatzakten zu öffentlichen Veranstaltungen werden hingegen nur in enger Auswahl übernommen, wenn das Ereignis wegen besonderer Bedeutung oder besonderer Größe eine gewisse Relevanz besitzt.

Gleiches gilt auch für Einsatzakten generell: Die Einsätze zu Demonstrationen, Sportereignissen, Unglücks-/Katastrophenfällen, Schwerverbrechen u.ä.m. werden nur dann überliefert, wenn besondere Bedeutung oder besondere Größe eine gewisse Relevanz begründen. Ergänzt wird diese Überlieferung durch die Akten zur Einsatznachbereitung, die bei der zuständigen Fachaufsichtsbehörde (also dem Landesamt für zentrale polizeiliche Dienste) anfallen. Diese Akten werden nur zu bestimmten Einsätzen angelegt, gelten aber komplett als archivwürdig. Überliefert werden somit Informationen zu besonderen Ereignissen wie auch zum polizeilichen Umgang mit speziellen Einsatzsituationen. (Informationen zu Einsatzakten finden sich im bald erscheinenden dritten Band der Massenakten-Reihe des Landesarchivs NRW.)

Bestimmte Einsatzsituationen werden nur von ausgewählten Kreispolizeibehörden übernommen. Der gesamte Bereich des Personen- und Objektschutzes (inkl. der Staatsbesuche) wird nur vom Polizeipräsidium Bonn (bis 2009) bzw. vom Polizeipräsidium Düsseldorf (ab 2010) übernommen. Bestimmte Sonderfälle können Ausnahmen bilden (z.B. die Flughäfen oder die Oberlandesgerichte).

Der gesamte Bereich der Ermittlungstätigkeit hingegen wird nicht über die Akten der Polizei, sondern über die Akten der Staatsanwaltschaften abgedeckt. Ermittlungsakten werden nach Abschluss der Ermittlungen von der Polizei an die Staatsanwaltschaften übergeben, wenn auch bereinigt um die polizeitaktischen Inhalte. Die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte enthält die Informationen über das Delikt und seine Hintergründe, die allein als archivwürdig bewertet werden. Welche staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten übernommen werden, ist nicht im Archivierungsmodell Polizei, sondern im Archivierungsmodell Justiz festgeschrieben.

Aus dem Bereich der Kriminalpolizei wird aber eine Auswahl von Kriminalakten (kriminalpolizeiliche personenbezogene Sammlungen) übernommen und zwar alle fünf Jahre ein Buchstabensample „B“. Hinzu kommen besondere Einzelfälle auf Vorschlag der Behörde. Damit ist gewährleistet, neben individuellen Besonderheiten einen substantiellen Fundus an Personenakten zu überliefern, der Aufschlüsse über Delikte und Täter liefert und so etwas wie eine kollektive Biographie formt. (Informationen zu Kriminalakten finden sich im zweiten Band der Massenakten-Reihe des Landesarchivs NRW.)

Schließlich sei auf die Schriftgutgruppe der Lagebilder verwiesen, die in unterschiedlichen Formen an unterschiedlichen Stellen der Kreispolizeibehörden anfallen. Auch sie sind weitgehend komplett archivwürdig, enthalten sie doch komprimierte Informationen zu bestimmten Deliktfeldern oder Einsatzangelegenheiten. Daneben existieren weitere Informationssammlungen, die individuell bewertet werden müssen (z.B. Körperschaftsakten beim Polizeilichen Staatsschutz).

 

Für alle Anregungen, Bemerkungen, Kommentare, Kritiken, Veränderungs- und Verbesserungsvorschläge bin ich dankbar:

Ist die Überlieferung der Polizei mit diesem Archivierungsmodell angemessen gesichert?

Fehlen überlieferungswürdige Aspekte, seien sie inhaltlicher oder organisatorischer Art?

Haben andere Bundesländer ganz andere Ansätze bei dieser Überlieferungsbildung?

Könnten irgendwo bessere Verbindungen zu verwandten Überlieferungen (gerade im kommunalen Bereich) geknüpft werden?

Auch bisherige Erfahrungen von Nutzerseite interessieren mich: Hat schon jemand mit Polizeiakten gearbeitet? Haben die Bestände die Erwartungen erfüllt oder fehlten gesuchte Dokumente?

Eine rege Beteiligung an dieser Diskussion würde mich freuen, um die Isolation bei der Überlieferungsbildung zu durchbrechen. Außerdem schleicht sich nach einer gewissen Bearbeitungszeit gerne eine gewisse „Betriebsblindheit“ ein, die einen den einen oder anderen Fehler nicht mehr sehen lässt. Auch für alle Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung!

 

18 Gedanken zu „Zur Diskussion: Überlieferungsbildung bei der Polizei

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  1. „Polizei ist eng mit den Gegebenheiten der lokalen Lebenswelt verknüpft – was wünschen Sie sich für eine polizeiliche Überlieferungsbildung?“ – zunä#cht danke dafür!
    2 Gedanken schon einmal auf die Schnelle:
    1) Wenn es ein Wunschkonzert wäre, würde ich mir eine gemeinsame Bewertung, (Aktenautopsie vor Ort), also wirkliche Überlieferungsbildung im Verbund, wünschen. Dann kann ich die Entscheidung nachvollziehen und mittragen oder aus regionaler Sicht „korrigierend“ ;- ), wohl eher ergänzend, eingreifen. M. E lässt sich Regionalität weder durch Auswahlverfahren noch durch Schreibtischentscheidungen im manchmal sehr fernen Landesarchivstandort hinreichend abbilden.
    2) Wie sieht es eigentlich mit „Sammlungsgut“ aus? Existieren Foto-, Film-sammlungen? Wie wollen Sie mit Asservaten umgehen?

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