Alle Artikel von Bastian Gillner

Offene Archive – 5. Konferenz mit Archivcamp – Ein Tagungsbericht

Wo ist meine Akte?“, so steht es als großes Graffito im Eingang des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, dem heutigen Sitz des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, dem Gastgeber der diesjährigen Konferenz „Offene Archive“. Löst man die Frage von ihrem räumlichen und historischen Kontext und weitet sie in die Richtung „Wo sind die Informationen, die ich gerne hätte?“, dann berührt man den Kern dessen, was die „Offenen Archive“ ausmacht: den Zugang zu Archiven und Archivgut verbessern, die Sichtbarkeit von Archiven und Archivgut verstärken, Archive und Nutzer besser vernetzen. Und tatsächlich gab auch die mittlerweile fünfte Konferenz „Offene Archive“ wieder zahlreiche Impulse für ein positives Miteinander von Archiven und Nutzern und den erfolgreichen Einsatz digitaler Anwendungen im archivischen Umfeld.

 

Eingang zum Stasi-Unterlagen-Archiv

Rund 140 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich in Haus 22 des früheren MfS-Areals eingefunden, einem ehemaligen Veranstaltungssaal für MfS-Offiziere und SED-Mitglieder, der heute als Campus für Demokratie erfreulicheren Diskussionen dient. Mit dem 4. und 5. November 2019 als Tagungstermin fand die Konferenz in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zum dreißigjährigen Jubiläum der Maueröffnung statt, was an diesem Ort stets präsent war (nicht zuletzt durch abendliche Bild- und Toninstallationen auf den riesenhaften Gebäudefronten). Weiterlesen

Offene Archive – 5. Konferenz mit ArchivCamp

Offene Archive – 5. Konferenz mit ArchivCamp
4. und 5. November 2019, Berlin

30 Jahre nach der Friedlichen Revolution von 1989:

Der Arbeitskreis Offene Archive im VdA lädt herzlich nach Berlin ein!

 

Die Öffnung des Archivs der Stasi war ein weltweit einmaliger Vorgang mit Vorbildwirkung für viele postdiktatorische Gesellschaften. Erstmals konnten Bürger*innen am 2. Januar 1992 Einsicht in Stasi-Unterlagen nehmen, um ihr eigenes Schicksal aufzuklären. Die Machtzentrale der DDR-Geheimpolizei ist heute ein Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand und ein Lernort für Demokratie.

Am 4. und 5. November 2019 laden wir 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution zur fünften Ausgabe der „Offenen Archive“ in Berlin ein. Hochkarätige Keynotes, spannende Kurzvorträge sowie eine Podiumsdiskussion zur Archiv-, Netz- und Kulturpolitik sind Teil des Programms. Das öffentliche archiv-, netz- und kulturpolitische Podium am 4. November (ab 19 Uhr) wird u.a. mit Roland Jahn (Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen), Prof. Dr. Gerald Maier (Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg), Helene Hahn (Wikimedia Deutschland e.V., Präsidium), Erhard Grundl (MdB, kulturpolitischer Sprecher Bündnis90/Die GRÜNEN-Bundestagsfraktion) und Martin Rabanus (MdB, Sprecher für Kultur und Medien, SPD-Bundestagsfraktion) besetzt sein.Weiterlesen

Bewertungsempfehlungen der Arbeitsgruppe „Archivische Bewertung“ der Arbeitsgemeinschaft bayerischer Kommunalarchive

Die Arbeitsgemeinschaft bayerischer Kommunalarchive hat gestern im Rahmen der 50. Jahrestagung einen Bewertungskatalog des Arbeitskreises Bewertung vorgestellt und veröffentlicht: http://kommunalarchive-bayern.de/index.php?id=591

„Aufgabe des Arbeitskreises war es, einen Leitfaden zu entwickeln, an dem sich Archive bei der Übernahme von behördlichem Schriftgut im Rahmen der Aussonderung orientieren können. Die damit in den Blick genommene Bewertung des angebotenen Registraturgutes soll eine erste Arbeitshilfe für die mit der Archivierung betrauten Fachkollegen sein. Zudem ist so die Übernahme von als archivwürdig bewerteten Unterlagen in die Archive als ein nachvollziehbares und von archivfachlichen Überlegungen geprägtes Handeln anzustreben.

Die hier vermerkten Bewertungen begreifen sich als Empfehlungen. Lokale Gegebenheiten und das jeweils beabsichtigte Archivprofil wie auch die Größe der Kommune und ihres Archivs können weitere ausschlaggebende Bewertungskriterien sein. Die in den Kommunen gepflegten Ablagegewohnheiten zwingen unter Umständen auch zur Prüfung von Aktengruppen, die in der Regel nicht archivwürdiges Schriftgut erwarten lassen (z.B. gesammelte Rechtsgrundlagen mit ergänzenden individuellen und damit archivwürdigen Stellungsnahmen).“

Vor ähnlichen Bewertungsentscheidungen dürften täglich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen stehen, so dass ein Abgleich mit der eigenen Praxis sinnvoll erscheint – wo liegen Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Als umfassender Bewertungskatalog ist das Modell mindestens dort enorm hilfreich, wo vielleicht andernorts noch gar keine Vorstellungen von der Archivwürdigkeit spezieller Aktengruppen bestehen. Interessant erscheint auch, dass es sich um ein Bewertungsmodell handelt und nicht um ein Dokumentationsprofil – ist das ein Bug oder ein Feature? Wie immer gilt: Diskussionen sind herzlich erwünscht!

 

 

Zur Diskussion: Überlieferungsbildung bei der Polizei

 

Am Anfang dieses VdA-Blogs stand auch die Überlegung, dass den Archivarinnen und Archivaren in Deutschland die Gelegenheit fehlt, sich im virtuellen Raum angemessen fachlich austauschen zu können. Der Fachdiskurs findet weitgehend über Publikationen und Vorträge statt, zwei Kommunikationsformen, die sich zwar durch Sichtbarkeit und Stabilität auszeichnen, weniger aber durch Austausch und Diskussionsmöglichkeiten. Diese Lücke will das VdA-Blog schließen helfen, in dem Themen präsentiert und diskutiert werden können.

Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle versuchen, ein spezielles Thema in den Blickpunkt zu rücken, dass mich in meiner alltäglichen Arbeit nun schon etwas länger begleitet, dessen Behandlung aber bisher immer eher introvertiert-intellektuell als diskursiv-kommunikativ stattfand: die Aktualisierung des Archivierungsmodells Polizei des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen. Das Modell stammt bereits aus dem Jahre 2006 und bedarf einerseits wegen veränderter polizeilicher Strukturen, andererseits wegen neu gewonnener Erkenntnisse über Arten und Inhalte des polizeilichen Schriftguts eine gewisse Modernisierung.

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Digitale Erinnerungskultur

Sektionssitzung 4 auf dem Deutschen Archivtag 2015

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Zweiter Konferenztag, 16 Uhr, ein Zeitpunkt, zu dem man schon viele Vorträge gehört hat und sich auf das folgende informelle Abendprogramm freut – kein dankbarer Zeitpunkt für einen Referenten, um sich der vollen Aufmerksamkeit des Plenums gewiss zu sein. Doch die Sektionssitzung 4 versprach unter dem Obertitel der Digitalen Erinnerungskultur spannende Fragen, entsprechend gut war der bunkerartige unterirdische Saal besucht.

 

Den Anfang machte Dr. Gabriele Stüber (Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz) mit einem Vortrag zu Chancen und Risiken digitaler Wahrnehmung, wobei sie explizit eine vermeintliche schöne neue Archivwelt in Frage stellen wollte. Schöne neue Archivwelt, das seien all die unterschiedlichen Aktivitäten und Projekte, die der digitale Wandel der letzten Jahre auch den Archiven ermöglicht habe, insbesondere bedingt durch die Möglichkeiten der Digitalisierung, die faktisch zu einer archivischen Kernaufgabe geworden sei. Niemals sei es für Archive einfacher gewesen, Menschen mit Quellen zusammen zu bringen, und entsprechend euphorisch hätten viele Archive (und verwandte Kultureinrichtungen) auf die sich bietenden Chancen reagiert. Europeana, Kirchenbuchportale, das Landeskundeportal LeoBW oder die Mannheimer Digitalisierungs-Gesellschaft wurden als Beispiele genannt. Alles in allem sei viel in Bewegung geraten und der Kontakt zu den Nutzern sei enger als je zuvor.
Diese Entwicklung könne man jedoch nicht nur positiv sehen, würden sich doch hinter dieser glänzenden Oberfläche einige problematische Aspekte verbergen. Die Online-Bereitstellung von digitalisiertem Archivgut bedeute eine Verengung des reichhaltigen kulturellen Erbes, das in den Archiven verwahrt werde. Digitalisierte Bestände würden primär wahrgenommen, während der undigitalisierte Rest aus dem Blickfeld verschwände. Digitalisierung und Online-Stellung bedeute also gerade nicht eine breitere Zugänglichmachung von Archivgut, sondern viel mehr eine Einschränkung des Quellenfundus. Überhaupt berge die Auswahl zu digitalisierender Bestände eine erhebliche Gefahr, bedeute die Priorisierung doch so etwas wie eine zweite Bewertung, die manches Archivgut durch die Nicht-Digitalisierung der Nicht-Wahrnehmung preisgäbe. Dabei sei diese Auswahl unausweichlich vom Zeitgeschmack bestimmt, im schlechteren Falle sogar von Interessen von Drittmittelgebern. Archive drohten ihre Rolle als neutraler Informationsspeicher mit erheblicher Bedeutung für die Wissenschaft wie auch für die allgemeine Erinnerungskultur zu verlieren, wenn sie nun als Informationsverteiler agieren würden. Gerade die Kontextualisierung von Informationen im Archiv ginge bei punktuellen Digitalisierungsprojekten verloren. Letztlich verschärfe die Digitalisierung mit dem verbundenen Ressourcenaufwand die Spaltung des Archivwesens in leistungsfähige Archive erster Klasse und einem breiten Rest.
Alles in allem hätten die Archive eine vielfältige Verantwortlichkeit angesichts des digitalen Wandels, insbesondere für die Kontexte und die Pluralität von Wissen. Der digitale Wandel sei nicht abzulehnen, wohl aber durch eine möglichst breite Debatte über die archivische Identität angesichts der Entwicklungen zu begleiten.

 

Ein spezielles Digitalisierungsprojekt sprach danach Dr. Martin Schlemmer (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland) an, nämlich die Digitalisierung der Edition der Kabinettsprotokolle von Nordrhein-Westfalen. Die Edition der Kabinettsprotokolle ist schon ein älteres Projekt, das seit 2007 aber durch eine digitale Online-Version ergänzt wurde und entsprechend neue Erkenntnisse über Nutzung und Nutzer dieser Quellengruppe einbrachte – Erkenntnisse, die sicherlich auch eine allgemeine Relevanz für die Online-Stellung von Archivgut haben. Ausgangspunkt seines Vortrags war die bedenkenswerte These, dass die bloße Online-Stellung von Archivgut nicht – wie vielleicht zu vermuten sei – zu einer unmittelbaren Wahrnehmung führe. Die Hoffnung, dass das, was im Internet verfügbar ist, automatisch wahrgenommen werde, sei ebenso falsch wie die verbreitete Gegenthese, dass das, was nicht im Internet verfügbar ist, überhaupt kein Interesse mehr auf sich zöge. Um Aufmerksamkeit zu generieren, bedürfe es bestimmter Distributionskanäle und Netzwerke, wie sie etwa für traditionelle Editionen über die etablierten Verlagsstrukturen bestehen. Im digitalen Raum schaffe insbesondere die Anbindung einer Online-Edition an namhafte Seiten und/oder Portale die notwendigen Strukturen. So habe insbesondere die Verbindung mit der Wikipedia – also etwa die Auszeichnung bestimmter Politiker-Einträge mit einer entsprechenden Verlinkung – einen erheblichen Zugewinn an Zugriffen erbracht. Ähnliches gilt für die Nutzung von Normdaten (PND/GND). Natürlich führe auch die Google-Volltextrecherche viele Besucher zu der Online-Edition, die früher niemals die gedruckte Version in die Hände genommen hätten. Ungeachtet der verstärkten Nutzung der digitalen gegenüber der analogen Edition gelte letztere bisweilen doch als vertrauenswürdiger, ersichtlich etwa an einer Anfrage, ob die benutzte digitale Edition denn zur Zitation auch analog existiere. Schlemmer zog das Fazit, dass digitale Insellösungen tatsächlich weniger erfolgreich seien als analoge Publikationen mit etablierten Distributionsstrukturen. Wenn aber bestimmte Transmissionsriemen existierten, die die Online-Edition mit dem Zielpublikum vernetzen können, dann könne hier eine bessere Wahrnehmung erreicht werden. Denkbare Medien wären nicht nur Homepages und Portale, sondern insbesondere auch soziale Medien wie etwa Blogs oder Facebook. Um Online-Präsentationen angemessen zu bewerben und zu vernetzen, sei also eine Cross-Media-Strategie nötig.

 

Den abschließenden Vortrag hielt schließlich Heike Wittmer (Stadtarchiv Pirmasens), in welchem sie neue Wege zum Umgang mit der klassischen Gedenkarbeit thematisierte, die gerade Kommunalarchive regelmäßig leisten. In Pirmasens habe sich seit den 1990er Jahren die Erforschung der lokalen jüdischen Geschichte intensiviert, doch ein abschließender Denkmalbau sei schließlich nicht zustande gekommen. Entsprechend wurde 2013 ein Neustart gewagt, der nicht mehr nur ein Denkmal umfasst, sondern ein gesamtheitlicheres Konzept verfolgt habe. Hierzu habe auch eine multimediale Begleitung gehört, die im Wesentlichen vom Stadtarchiv getragen werde. Unter Einbezug von Schülergruppen seien Quellen recherchiert und Texte erarbeitet worden, die auch online zur Verfügung gestellt wurden. Eine Verbindung zwischen Ereignisort und Quelle hätten nun Erinnerungstafeln geschaffen, die an ehemaligen jüdischen Wohnhäusern angebracht wurden und QR-Codes tragen. Vor Ort seien nun die Informationen über ehemalige Bewohner und deren Schicksal möglich, indem die QR-Codes auf online stehende Texte, Lebensläufe und Bilder verweisen. Ungeachtet der großen Aufmerksamkeit des Projekts bei der Anbringung der Tafeln sei eine verstärkte Nutzung des zugehörigen Archivguts aber weniger spürbar.

Personenbezogene Daten und personenbezogene Schutzfristen

Fester Bestandteil eines Archivtagsbesuchs sind am ersten Tag nicht nur die Archivtagstaschen, sondern auch die Fortbildungsveranstaltungen. Während erstere aber nur eine kurze Halbwertszeit haben und bald immer irgendwie verschwunden sind (bei mir zumindest), bleibt aus letzteren doch zumeist wesentlich mehr, was noch auf lange Zeit hin für den Berufsalltag nützlich sein kann.

 

Da dieses Blog hier explizit auch der Fachdiskussion dienen soll, möchte ich einen sehr spannenden Gedanken skizzieren, der bei der schönen Fortbildungsveranstaltung zu „Personenbezogenen Angaben in Archivgut und Erschließungsdaten“ von Grit Kurth und Stephen Schröder thematisiert wurde und sicherlich verdient, stärker ins archivarische Allgemeinwissen einzugehen: Gemeint ist der Unterschied zwischen personenbezogenen Daten und personenbezogenem Archivgut. Oder besser: die Nicht-Deckungsgleichheit von personenbezogenen Daten und personenbezogenem Archivgut. Wir wissen alle, dass es nur eine ganz geringe Zahl von Dokumenten gibt, die tatsächlich reine Sachakten ohne jegliche Erwähnung von individuellen Personen darstellen. Der Normalfall sind viel eher Sachakten mit einer unterschiedlichen Dichte von personenbezogenen Informationen. Aus meinem subjektiven Empfinden reagieren Archivarinnen und Archivare sehr zurückhaltend, vielleicht gar restriktiv, wenn es um den Umgang mit solchem Schriftgut geht, sei es bei der Vergabe von Schutzfristen oder der Vorlage für die Benutzung. Häufig dürfte die Verhängung von personenbezogenen Schutzfristen sein, die den freien Zugang zum entsprechenden Archivgut zumeist um mehrere Jahrzehnte nach hinten verschiebt. Eine sehr unbefriedigende Situation, wenn man Archive nicht als abgeschiedene Orte der Bewahrung, sondern als offene Häuser der Geschichte verstehen will, doch die archivarische Angst vor der Enthüllung vermeintlicher oder tatsächlicher personenbezogener Daten scheint größer zu sein als der Wunsch nach Befriedigung von Zugangsinteressen.

 

LAV NRW R Gerichte Rep. 112 Nr. 741

Beispiel für eine personenbezogene Akte: Prozessverfahrensakte Sondergericht Köln (LAV NRW R Gerichte Rep. 0112 Nr. 741)

 

Erfreulicherweise bezogen die Referenten – stets mit Blick auf die archivrechtliche Literatur! – eine eindeutige Position: Das bloße Vorkommen von personenbezogenen Daten rechtfertigt noch keineswegs die Verhängung personenbezogener Schutzfristen. Weiterlesen